Es gibt Krimis, die ich, ohne den Autor zu kennen gelesen habe, ohne nachzudenken, einfach, weil mich der Titel angefixt hat.

Die Theologie des Wildschweins

Die Theologie des Wildschweins lautet der Titel des Kriminalromans von Matteo Locci. Doch was, bitteschön, ist eine Theologie des Wildschweins? An was genau hat der Autor bei seinem Titel gedacht? Mit einem Wildschwein assoziiere ich etwas Unberechenbares, etwas Wildes. Das Wörterbuch definiert Theologie als eine „wissenschaftliche Lehre von einer als wahr vorausgesetzten [christlichen] Religion, ihrer Offenbarung, Überlieferung und Geschichte„. Kann es sein, dass die Theologie des Wildschweins die Offenbarung des Unberechenbaren ist? Um das herauszufinden, sollte man diese interessant komponierte Sardinien-Crime-Story lesen.

In diesem Kriminalroman ist eigentlich nichts normal: Nicht der Titel, nicht der Hintergrund, vor dem die Handlung spielt, nicht die Personen, die diesen Roman bevölkern und auch nicht die rätselhaften Dinge, die ihnen widerfahren.

Die Busenfreunde Matteo Trudinu und Gesuino Némus werden in Telévas, einem unbeachteten Bergdorf im Inland von Sardinen, in eine Reihe mysteriöser Tötungsdelikte verwickelt. Matteo ist der hochbegabte Sohn eines flüchtigen Banditen, Gesuino ist elternlos und verhaltensgestört. Beide genießen in besonderer Weise den Schutz des Dorfpfarrers Don Cossu, der sich um die Zwölfjährigen kümmert, als seien es seine eigenen Kinder. Im Juli 1969, in den Tagen rund um die erste Mondlandung, wird der überwiegend bäuerlich bewirtschaftete Ort zum Schauplatz eines Mordfalles. Matteos Vater wird tot in der Nähe seines Hauses aufgefunden. Verkompliziert wird die Situation nur wenig später durch das Auffinden einer zweiten Leiche.

Wer in Telévas lebt, tut das, weil es sein einzig mögliches Zuhause ist oder weil er sich nichts anderes leisten kann. Telévas ist einer dieser Orte, die von der Öffentlichkeit erst dann wahrgenommen werden, wenn wieder einmal ein Mord passiert. Aus Telévas stammt Gesuino Némus, Loccis Erzähler. Er wächst dort in Armut auf, als Sohn eines „Niemand“, da keiner weiß, wer sein Vater ist. Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben. Da Gesuino so gut wie gar nicht spricht und oben drein noch schüchtern ist, wird er von den Dorfbewohnern ausgegrenzt. Nur mit seinem Busenfreund Matteo versteht er sich auch ohne Worte.

Doch Telévas ist für Gesuino nicht nur ein konkreter Ort, sondern auch ein Geisteszustand, eine Erinnerung an menschliche Schwächen und vergangenes Versagen. Was wir von Gesuino, der jeden Tag ein Buch schreibt, das in den meisten Fällen aus einem einzigen Satz besteht, zu lesen bekommen, sind unverstellte Gier, Neid, Überheblichkeit, Dummheit und Rücksichtslosigkeit. Auf der anderen Seite zeigt Gesuino, wie der soziale Frieden in Telévas zunehmend brüchig wird. Er lässt keinen Zweifel daran, dass zwischen den Morden und den kleingeistigen, funktionierenden Strukturen der Dorfgemeinschaft ein direkter Zusammenhang besteht.

Telévas ist, wie auch der Name des Erzählers im Roman, ein fiktiver Name, und doch wird schnell klar, dass der Krimi dort angesiedelt ist, wo der Autor 1958 geboren wurde: In Jerzu, in der unwegsamen Ogliastra.

Die Theologie des Wildschweins ist nur der Auftakt zu einer ambitionierten Krimireihe, in der Matteo Locci von den Verbrechen und Missgeschicken in dem kleinen Dorf Telévras erzählt. Allerdings, und das ist ziemlich clever, beschreibt Locci die Vorkommnisse in „Die Theologie des Wildschweins“ nicht aus erwachsener, sondern aus kindlicher Perspektive. Gesuinos Schilderungen von Armut und Viehdiebstählen, von Alltagsgewalt und alternativlosem Katholizismus, von Statussymbolen und Männern die ihre Frustration mit Alkohol zu bekämpfen versuchen, sind von verblüffender Intensität und gelegentlich überraschend witzig.

Locci erweist sich als Meister darin, einerseits die Spannung zu halten und andererseits die Handlungsfäden so geschickt zu spinnen, dass der Leser trotz einer Vielzahl von Figuren, wechselnder Perspektiven und unterschiedlicher Zeitformen nie den Überblick verliert. Vor allem aber brilliert Locci darin, den dörflichen Microkosmos lebendig zu machen, erfahrbar und spürbar. Er zeichnet das Bild einer in den Zwängen und Konventionen der Epoche gefangenen Insel.

Loccis Buch ist ein vielschichtiger Kriminalroman mit überzeugendem Lokalkolorit. Ideal als spannende Sardinien-Ferienlektüre.

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Zur Person:

Matteo Locci, alias Gesuino Némus, Jahrgang 1958, musste 57 werden, bis er berühmt wurde. Bis dahin wenig beachtet, wurde der in Jerzu geborene Krimi-Schriftsteller für seinen Debütroman „La teologia del cinghiale“ (Die Theologie des Wildschweins) 2015 mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der Premio Campiello.